Unter diesem Motto stand die RED COUCH 2017, eine Kundenveranstaltung der Management Angels in Hamburg, die am 12. Oktober 2017 stattfand.
Wird mit diesem Thema wieder eine neue Sau durch die Unternehmensflure getrieben? Was ist dran an dem Hype um die Agilität?
Diese Frage war die Basis für die Diskussion auf der RED COUCH der Management Angels. Klaus-Olaf Zehle, Partner bei den Management Angels, der sich als Organisationsentwickler selber bereits lange mit dieser Themenstellung aktiv beschäftigt, hatte dazu kompetente Referenten eingeladen:
Dr. Jo Beatrix Aschenbrenner, Juristin und Partnerin bei encode.org, einem Unternehmen, das die Konzepte der Holokratie implementiert hat, hielt die Ergebnisse der Veranstaltung im Graphic Recording fest.
Dr. Stefan Link, der als Gründer und Partner des Expertennetzwerks Scalamento Unternehmen und Teams bei deren digitalen und/oder agilen Transitionen begleitet.
Volker Maiborn, Gründer und Geschäftsführer der MaibornWolff GmbH, einem IT-Beratungsunternehmen mit über 300 Mitarbeitern. Es wurde, dank der Implementierung einiger Konzepte selbststeuernder Unternehmen, bereits fünf Mal in Folge von den Mitarbeitern auf Platz 1 des Great-Place-to-Work-Wettbewerbs „Bester Arbeitgeber in der IT“ gewählt.
Eckhart Hilgenstock, Interim Executive (EBS), der derzeit bei Adobe Systems für den Consulting-Verkauf in Europa (EMEA) verantwortlich ist und dort in Kundenprojekten bevorzugt mit agilen Methoden arbeitet.
Klaus-Olaf Zehle nahm zum Start erst einmal Bezug auf das agile Manifest aus dem Jahre 2001, das eine der Grundlagen für die „Agilisierung“ darstellt, die zuerst in der Softwareentwicklung und inzwischen in vielen Unternehmensbereichen Einzug erhalten hat.
Auf die Frage, wie die Teilnehmer erstmalig auf das Konzept „Selbststeuernder Unternehmen“ aufmerksam wurden, kam immer wieder das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux zur Sprache. Jo Aschenbrenner, die dieses Buch, wie sie sagt, „verschlungen“ hat, ist nach dem Lesen aktiv auf die Suche gegangen, um ein Unternehmen zu finden, in dem dieses Konzept umgesetzt werden könnte. So ist sie direkt zu encode.org gekommen, die zu diesem Zeitpunkt eine Juristin für ihr Unternehmen suchten. Stefan Link hat in seiner Rolle als CTO mehr und mehr agile Konzepte eingeführt. Damit entgegnete er dem Vorwurf, dass die IT zu langsam sowie zu teuer sei und ist so sukzessive zur Selbststeuerung gekommen. Volker Maiborn hat den Zeitpunkt sogar in seiner Facebook Timeline veröffentlicht. Nach einer Konferenz in Hannover nahm er zum ersten Mal das Buch „Reinventing Organizations“ in die Hand und hatte das „Aha“-Erlebnis, das die Organisationsform der Kunden eher dem orangenen Modell (modern) entsprach, die eigene Organisation dem grünen Konzept (postmodern) und das es noch eine Stufe mehr im Modell petrol (integral) gibt.
Auch Eckhart Hilgenstock faszinierte Laloux‘ Buch, sieht aber den Film Augenhöhe als Trigger. Noch entscheidender war für ihn ein Seminar zum Scrum Master, in dem er das erste Mal aktiv die Vorteile agilen Arbeitens kennengelernt hat.
In der Diskussion wurden die Grundkonzepte agiler Organisationen benannt:
- die Fähigkeit einer Organisation, in Zeiten der Unsicherheit flexibel reagieren zu können
- kein ausgearbeiteter Umsetzungsplan, stattdessen Verfolgen des Prinzips von „Inspect und Adapt“
- Transparenz und ein hohes Grad an Vertrauen
- frühzeitiges Interesse und permanentes Berücksichtigen des Kundenfeedbacks
- Prioritäten daran ausrichten, was als nächstes den größten Nutzen bringt
- ein klarer Rahmen (Vision, Ziel), aber eine flexible Ausgestaltung innerhalb dieser Leitplanken
- Ideensammlung, Backlog und permanente Priorisierung
- Akzeptanz der „sunk costs“ – auch einmal etwas „wegwerfen“ können – in der IT „refactoring“
- Messbarkeit der Leistung
- klare Orientierung auf den Product Owner
Auch was agil nicht ist, wurde diskutiert. „Nur ein Kanban Board mit Post It‘s und Daily Stand Ups reichen in jedem Fall nicht aus, dieses könnte man eher als agile Folklore bezeichnen“, so Volker Maiborn. Stefan Link bezeichnet Projekte, die nach außen mehr darstellen als „trojagil“, um das Bild des trojanischen Pferdes zu verwenden, bei dem außen agil draufsteht, das aber innen hohl ist. Will das Unternehmen nur nach außen agil wirken oder hat sich tatsächlich die gesamte Einstellung im Unternehmen geändert?
Es folgte eine spannende Diskussion zu den Konzepten der Holokratie, die durch ihr „Meta“-Regelwerk fast schon wieder begrenzend wirkte.
„Es braucht in jedem Fall weniger Hierarchie und Bürokratie, wobei formelle Strukturen in Grenzen durchaus sinnvoll sind und nicht abgeschafft werden müssen“, so Dr. Stefan Link auf die Frage, wie frei denn Organisationen agieren können.
Volker Maiborn stellte dar, wie bei MaibornWolff im Bereich F&E die Mitarbeiter selbst ihre Themen, an denen sie arbeiten, definieren. Dadurch sind bereits spannende neue Produkte und Dienstleistungen im Bereich Virtual Reality und Blockchain entstanden, die in einem herkömmlichen F&E Prozess vielleicht gar keine Chancen gehabt hätten. Auch die Eröffnung eines neuen Büros an einem neuen Standort war aus der Initiative einer Mitarbeitergruppe erfolgreich etabliert worden. Natürlich gab es auch Initiativen, die nicht umgesetzt wurden.
„Kunden, die einmal agile Projekte kennengelernt haben, wollen nicht wieder zurück in die „alte“ Welt“, so Eckhart Hilgenstock. Obwohl natürlich die Umstellung auf dieses Modell schon die eine oder andere Diskussion erfordert. Hier ist das Prinzip des Vertrauens das zentrale Konzept.
Auch neue Konzepte des Change Managements, die sich der Geschwindigkeit der Veränderung anpassen müssen, wurden intensiv diskutiert, wie z.B. das relationale Veränderungsmanagement nach Sonja Radatz. Dies muss nach der Veränderung sofort gelebt werden, damit Selbstverantwortung und Flexibilität – auf allen Ebenen – die Umsetzung der Veränderung implizit herbeiführen.
Agilität in der VUCA-World
Was bedeutet diese gesamte Veränderung in einer VUCA-World (V= volatility, U=uncertainty, C = complexity, A = ambiguity) für Führungskräfte und natürlich auch für Interim Manager? Die Teilnehmer waren sich einig, dass es auch bei den neuen Konzepten Manager braucht, diese aber ein anderes Selbstverständnis und eine andere Perspektive einbringen müssen.
Es muss vielmehr die Kundenperspektive in die Unternehmen eingebracht werden. Diese bestimmen die zukünftige Wertschöpfungskette, die mehr auf eigenständige cross-funktionale Teams ausgerichtet ist. Diese entwickeln in kurzen Zyklen Produkte in mehreren Iterationen. Man beginnt mit einem sogenannten MVP (minimum viable product), das dann gesteuert über den Product Owner in Sprints weiterentwickelt wird. Das dabei das Grundprinzip „fail often and early“ zum bestimmenden Moment für schnelles Lernen wird, ist eine der veränderten Perspektiven. Fehler machen zu dürfen, ist ein Kulturbestandteil. Nicht die Suche nach dem Schuldigen ist entscheidend, sondern die frühzeitige Aufdeckung und die daraus abgeleitete Adaption.
Der Faktor Mensch
„Menschen auf der Strecke in die neue Welt mitzunehmen, wird zum kritischen Erfolgsfaktor“, so Volker Maiborn und Jo Aschenbrenner, „ohne die Mitarbeiter ist das Unternehmen nichts.“ Zum Beispiel in der Holokratie – die Pyramide wird auf den Kopf gestellt. Nicht die klassische Hierarchie, sondern die jedem Mitarbeiter zugeordnete Rolle und aufgabenbezogene Verantwortung ist entscheidend. „Machtspiele und das egogetriebene Gehabe des Managements werden durch neue Strukturen ausradiert“, so Aschenbrenner weiter. Allerdings funktioniert ein Unternehmen, das diesem Modell folgt, nur durch die strikte Einhaltung von Regeln. Diese können aber in gemeinsamer Absprache geändert werden. Diesem Weg würde Maiborn nicht folgen, in seinem Unternehmen seien ja gerade die vielen Regeln abgeschafft worden. Zwar seien Meetings in der Holokratie unglaublich effizient, aber das ginge zu Lasten vieler anderer Freiheiten, die gerade den Charme seines Unternehmens ausmachten.
„Wir sollten nicht unterschätzen, was ein einzelner Mensch verändern kann, wenn er die Chance hat mitzugestalten“, ergänzte Eckhart Hilgenstock. Er zitierte in diesem Zusammenhang Laloux, der bezogen auf alte Weisheitstraditionen davon spricht, dass es zwei Wege gäbe, das Leben zu leben: Der eine ist aus „Angst und Mangel“ und der andere ist aus „Vertrauen und Fülle“.
„Agilität ist vor allem eine Frage der Haltung und des Wollens“, so Stefan Link.
Wo kommt eigentlich der Adaptionsdruck her? Welches Problem soll gelöst werden? Nicht das prinzipielle Organisationsmodell ist entscheidend, sondern das zum Unternehmen in der jeweiligen Situation am besten passende Modell ist erfolgsversprechend. Und natürlich gibt es Unternehmen oder Aufgabenstellungen für die Agilität in keinem Fall das richtige Modell ist. Vor allem ein Wandel, der nicht aufgepfropft wird, sondern sukzessive auf veränderte Anforderungen ausgerichtet wird, ist erfolgsversprechend. „Je nach Reife des Organisationsgrads ist das richtige Organisationsmodell zu finden“, so Hilgenstock.
Transparenz und offene Informationspolitik
Ein weiterer Punkt zeichnet erfolgreiche Unternehmen aus: Transparenz und offene Informationspolitik. Wenn der Mitarbeiter in der Produktion weiß, welchen Wert das Teil hat, das er gerade bearbeitet bzw. welche Auswirkungen Fehler in seinem Arbeitsschritt auf nachgelagerte Schritte haben, wächst der Respekt und der Wille, qualitativ hochwertige Arbeit zu liefern. Das Wissen, das man gemeinsam an etwas arbeitet, das wertstiftend ist, quasi den Sinn, den „Purpose“ zu kennen, kann schon ausreichen, um mit gesundem Menschenverstand und sehr wenigen Regeln eine Organisation auf jeder Ebene zu gestalten.
Eckart Hilgenstock stellte am Beispiel der bei Laloux beschriebenen Unternehmen Erfolge der Selbststeuerung vor. So z.B. bei Buurtzorg, einem holländischen Unternehmen im Pflegebereich mit 10.000 Mitarbeitern, welches die Stufe der evolutionären integralen Organisation vollständig repräsentiert. Dort führte eine bei gleichen Kosten durch die Selbstorganisation gesteigerte Betreuungszeit von Pflegefällen zu einer wesentlich schnelleren Genesung und somit wesentlich niedrigeren Gesamtkosten der Pflege. „Wobei durchaus mehrere Entwicklungsstufen“, so Hilgenstock, „gleichzeitig in einem Unternehmen existieren können, also modern (orange), postmodern (grün) und evolutionär (petrol) je nach Aufgabengebiet und Anforderung.“ Das heißt dann für die Manager, sie müssen die „Entweder/oder“-Denke aufgeben und eine „Und“-Denke zulassen.
Vertrauen schaffen
Eckhart Hilgenstock führte als gutes Modell die fünf Dysfunktionen eines Teams auf, die auch in der agilen selbststeuernden Welt eine sehr gute Grundlage sind.
Zuerst einmal geht es um Vertrauen, dann um den positiven Umgang mit Konflikten. Das heißt, dass man diese nicht unter den Teppich kehrt, sondern sie nutzt, um positive Gedanken – die dahinterstehen – herauszuarbeiten. Drittens geht es um das Treffen von Vereinbarungen (commitment), viertens um die Übernahme der Verantwortung für das Ganze und fünftens muss man den Fokus auf Resultate legen.
„Wobei das theoretische Wissen um diese Prinzipien nicht das Problem ist“, so Link. „In Deutschland haben wir vor allem ein Umsetzungsproblem.“ Die geeigneten Wege zu finden, wie ein Unternehmen erste kleine Schritte gehen kann, ist die Herausforderung. Hier hilft z.B. mehr Transparenz. „Wie kann man Vertrauen schaffen“, so Link, „wenn man mit wesentlichen Informationen, z.B. den aktuellen Zahlen, hinter dem Berg hält?“
Oft kann erst am Ende einer Transformation sichtbar werden, wo man eventuell andere Wege oder schnellere Schritte hätte gehen können. Change kann man im eigentlichen Sinne nicht managen, man muss ihn ermöglichen, das heißt ihm den Raum geben. Auch ein Schritt in die falsche Richtung kann hilfreich sein, wenn die Erkenntnisse konstruktiv genutzt werden. Das heißt wiederum, dass im nächsten Schritt etwas anders gemacht wird und nicht, wie oft in deutschen Unternehmen, dass die Initiative dann einfach eingestellt wird. Erfahren und experimentieren sind hier angebracht.
Erfolreich agil sein
Was müssen Mitarbeiter mitbringen, die in agilen Unternehmen erfolgreich arbeiten können? Auf diese Frage antwortet Volker Maiborn, dass natürlich fachliche Kenntnisse, Kommunikationsfähigkeit und Humor wichtig seien, aber dann vor allem auch Offenheit sich als Mensch zu zeigen, authentisch zu sein, bereit eigene Fehler zuzugeben, Neugier und Toleranz. Ein Mitarbeiter sollte ohne Vorurteile mit sehr unterschiedlichen Dingen und Menschen umgehen können. So sind allein bei MaibornWolff Menschen aus 25 Nationen beschäftigt. Es gehört natürlich die Bereitschaft zu lernen und sich sowohl fachlich als auch persönlich weiterzuentwickeln ebenso dazu, wie der wichtigste Faktor, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Letzteres ist auch die größte Herausforderung für Mitarbeiter, die aus anderen Unternehmen kommen, in denen Freiräume nicht gegeben wurden.
In der darauffolgenden Diskussion wurden die Grenzen der Selbststeuerung und der Umsetzbarkeit intensiv diskutiert. So ist zum einen eine Kulturveränderung nötig, die eine gewisse Zeit braucht. Aber zum anderen ist auch die frühzeitige Einziehung der Arbeitnehmervertreter unabdingbar und sicherlich einer der wichtigsten Aufgaben, um eine breite Akzeptanz zu erreichen.
Und hier die Ergebnisse des Grafic Recording von Frau Dr. Aschenbrenner:
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